Reisen zu den Tieren der Kraft
Reise zu Mangel und Fülle:
Ich rufe in mir nach einem Tier, das sich mir für den Mangel zeigen will und sehe einen trüben Karpfenweiher. Luftblasen verraten mir, dass ein Tier darin ist. Nun sehe ich einen fetten Karpfen - mein Tier des Mangels! Er hat traurige Augen, er fühlt sich allein und unsicher, da jeder Mensch da draußen weiß, wo er gerade ist. Die Luftblasen geben seinen Standort preis.
Außen am Weiher steht der Weiherbesitzer mit Hut, Kniebundhosen und schüttet lieblos Industriefutter ins Wasser. Alles was der Karpfen tun müsste, ist das Maul aufsperren und fressen, aber er will nicht mehr. Er begreift, dass er hier gemästet wird, um in der Pfanne zu landen! Und so wie er jetzt schon aussieht, kann das nicht mehr sehr lange dauern. Ich frage den Karpfen, was er ändern würde, wenn er könnte. Er hat eine unendliche Sehnsucht nach einem anderen, freieren Leben: Er würde gern im Fluss oder gar im Meer schwimmen.
Wir überlegen uns einen Trick und installieren ein Gerät, das ab und zu Luftblasen produziert. So bleibt sein Verschwinden unbemerkt. Dann fülle ich meine Reisetasche mit Wasser und setze den Karpfen hinein. Er freut sich auf den Ausflug. Ausflug? Ja, will er denn ernsthaft wieder hierher zurück? Er fragt überrascht: "Hab ich denn eine Wahl?"
Nach einer Weile Fußmarsch komme ich an einen kleinen Fluss und setze den Karpfen ins Wasser. Zuerst ist er irritiert, schnappt nach Luft. Bisher kennt er keinen Widerstand, nun muss er mit einer heftigen Strömung zurecht kommen. Sie reißt ihn mit sich, er schafft es, sich in Ufernähe in Sicherheit zu bringen. Das geht ihm nun alles zu schnell. Er nimmt einen Fischschwarm wahr und erschrickt. Bisher war er allein.
Ich werde traurig und erkenne: Mangel entsteht, wenn ich nicht "im Fluss" bin. Der Weiher war auch mein Leben: Abgestandenes Wasser, miese Nahrung, aber ich musste mich um nichts kümmern. Der Fluss hingegegen erfordert Aufmerksamkeit, Achtsamkeit. Da sind Hindernisse, denen ich ausweichen muss. Ich muss mich um meine Nahrung kümmern, doch ich kann auswählen, was mir gut tut oder worauf ich gerade Lust habe.
Der Karpfen wagt sich nun vom Ufer weg ins offene Wasser. Schon bald lernt er die Strömung für sich zu nutzen. Er beginnt, seine Freiheit zu genießen. Er spielt mit den Wellen, die ihn tragen. Ich freue mich für ihn. Er dankt mir von ganzem Herzen für seine Befreiung.
Als ihm später ein wenig Wasser ins Maul schwappt, wird er aufmerksam: Salzwasser! Er befindet sich in der Einmündung zum Meer. Größere Fische kommen auf ihn zu, die Jagd auf ihn machen. Er fürchtet sich und dreht um. Gegen die Strömung schwimmen ist anstrengend. Er experimentiert und stellt fest, er muss tiefer tauchen, dann lässt die Strömung nach.
Kurze Zeit darauf findet er auf dem Flussgrund eine große Muschel. Er stupst sie an und spürt, wie sich daraufhin seine Gestalt verändert und er zum Delfin wird. Ich bin ergriffen: Mein Tier des Mangels hat sich in mein Tier für das Herzchakra verwandelt!
Jetzt stellt sich die Frage: Was tun? Im Fluss bleiben oder weiter ins Meer schwimmen? Er entscheidet sich für das Meer und schwimmt los. Nun kann er es genießen. Ich sehe ihm zu, wie er auf den Wellen reitet, springt, sich im Springen dreht. Er ist überglücklich. Nun gesellen sich andere Delfine zu ihm. Es ist schön, ihr Zusammenspiel zu beobachten.
Ich lasse das Erlebte noch einmal Revue passieren und frage den Delfin, was es mit der Muschel auf sich hatte. Er antwortet, dass er sich durch sie erinnern konnte, wer er wirklich ist, als hätte sie ihm gesagt: "Hey, Du hast etwas Wichtiges vergessen!" Er sagt: "Aber zuerst musste ich mich auf den Weg machen, sonst hätte ich sie nie gefunden."
Es ist paradox. Er hat sich mutig auf etwas vermeintlich Neues und Fremdes eingelassen - um dann zu merken, dass das sein eigentlicher Ursprung ist. Seine Sehnsucht nach Fluss und Meer machte für einen Karpfen vordergründig nicht wirklich Sinn, doch es war von enormer Bedeutung für ihn, ihr trotzdem zu folgen. Verglichen mit dem Weiher kam ihm der Fluss wie eine Offenbarung vor. Und der war wichtig, denn er gab ihm seine tatsächliche Gestalt zurück. Er lehrte ihn, selbstverantwortlich zu leben. Doch selbst der Fluss stellte mit seinen nahen Ufern noch eine Beschränkung dar. Eine Beschränkung dessen, was er wirklich ist: ein Delfin, dem in der unendlichen Weite des Ozeans zu leben bestimmt ist. In der Fülle. Mit seinen Artgenossen.
Ich gehe zu meinem Delfin ins Wasser, ich mag ihn spüren. Unsere beiden Herzen verschmelzen zu einem.
Claudia